


29252Asgijahr – 1976
»Die Legende vom fränkischen Zauberwald«

Weit östlich vom Zentrum der großen Menschensiedlung des Wanderkuriers, umgeben von mittleren Bergen am kleinen, netten Flüsschen Pegnitz, trafen sich einst sieben muntere Wanderzwerge und beschlossen just, ganz in die Tiefen des grünen Zauberwalds vorzudringen. Man sagt, es soll im Frühjahr geschehen sein. Sie hatten gehört, dort lebe ein Fuchs an einem Wanderweg. Und der habe viele nette Freunde um sich geschart. Und wenn man ein aufmerksamer Wanderer ist und zudem inspiriert, kann man eventuell ihren Geschichten lauschen? »Sie singen mit dem Wind«, heißt es, egal, wie er gerade gestimmt ist, mal leiser, mal lauter, mal stürmisch, mal eher sanft. »Sie hauchen in die weißen Morgennebel, rascheln mit dem trockenen Laub des Herbstes und pusten vergnügt in die Pusteblumen. Oh, sie lieben den Löwenzahn«, erzählt man sich. »Vor allem auch, weil man so leichtfüßig mit seinen Sporen träumend davonfliegen kann.« Und ja, »sie lieben« – wie die sieben Freunde – »den plätschernden Regen. Erfrischendes, kühlendes Wasser, oder aber eiskaltes, fast gefrorenes, das noch stundenlang nachtropft. Genauso die lauschigen, warmen Regenfälle des heißen, mitunter etwas schwülen Sommers.« Frisches Wasser belässt jede Welt wunderbar grün.

Alsdann lauschten die umsichtigen, nur halbwüchsigen Wanderburschen, bunt gemischt, wie sie waren, drei Mädchen und vier Burschen, auf ihren schattigen Pfaden, aufmerksam in jedes umliegende Gestrüpp. Konnten aber letztlich nur die Vögel in den Ästen über sich zwitschern hören. »Da, ein Specht bei der Arbeit!« Etwas entfernter erklang der Gesang einer Nachtigall – so wundervoll. Und Wildenten schienen sich an einem Wasser um etwas aufgebracht herumzuzanken? Wasser spritzte auf, sie tobten richtiggehend. Oder sie feierten eine beschwingte Entenparty? Na, wer weiß. »Da, ein Froschkonzert!«, und anscheinend direkt nebenan, jedoch fanden sie den zugehörigen, wohl nur kleinen Bachlauf nicht. »Ja, der Wald,« um sie herum, »der lebt!« Das wussten sie sofort, als sie ihn betraten. Ein Hase hoppelte gemütlich, direkt vor ihrer Nase, quer über ihren, zum Zeitpunkt, äußerst schmalen Fußpfad. Ganz so, als wolle er sich von niemandem bei seinem Müßiggang stören lassen. Als wisse er genau, ihn suchen sie nicht. Sie bildeten sich fast ein, er habe eine Brille getragen? »Bitte?« Oha, die Stimmung des Waldes war gänzlich anders an diesem Tag. So, als wisse er um ihre geheimen Wünsche? Als wolle er ihnen seine Geheimnisse tatsächlich preisgeben? Die sieben Zwerge, die sich gefunden hatten, weil sie leidenschaftlich und gänzlich unbeschwert in umliegende Wälder eintauchen konnten. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und gerade das Hoch- und Runterwechselspiel der mittleren Berge mochten. Sie wussten es urplötzlich, alle sieben: »Wir werden wahrlich gehört!« Und ja, es war nicht ganz unkritisch; nicht einmal ihren Eltern hatten sie erzählt, wohin sie gehen wollten. Somit war es insbesondere wichtig, sich nicht zu verirren und keinesfalls die gut beschilderten Wanderwege zu verlassen. Ihre Orientierung allzeit zu bewahren. Die Sonne über ihren Köpfen, sie beobachten aufmerksam deren Lauf. Denn sie mussten noch vor Sonnenuntergang zurück zur Menschensiedlung finden. Dass sich keiner ihretwegen Sorgen machen möge. Sonst dürften sie künftig nicht mehr alleine losziehen? Ein schrecklicher Gedanke. Ihre Abenteuerlust könnte beschnitten werden, weil sie die Geheimnisse des Waldes erkunden wollten? Die Großen meinen es ja immerzu gut, aber »bitte nicht!«, beteten sie im Stillen.

Nun, mitunter war es ihnen fast so – inmitten all ihrer Gedanken –, als könnten sie auch ein etwas größeres Tier neben sich herschleichen hören. Und plötzlich wussten sie es ganz sicher: »Der Fuchs ist da!« Er lief schon längere Zeit neben ihnen her und wartete nur darauf, dass sie sich niedersetzen würden. Also wählten sie einen sehr alten, schon lange am Boden liegenden Baumstamm als Sitzplatz, und flugs erwachten die Freunde des netten, kleinen, etwas schüchternen Fuchses in den Büschen und Bäumen um sie herum. So viele Eulen darunter und freche Oachkatzl, selbst Bambi entdeckten sie im Gras. Sie alle wirkten, als wohnten sie in den Rinden, den Ästen und Wurzeln der Bäume. Als wären sie gar Spukgestalten? Nicht wirklich? So klug und weise, wie sie doch über das Geschehen des Zauberwalds wachen? Oh, die Wanderzwerge hörten so viel Zauberhaftes und nahmen eigens an spannenden Abenteuern teil! Mit nochmals ganz anderen Kindern. Es kam ihnen auch nicht auf das Erleben als solches an – die erzählten Geschichten selbst, mit all ihren vielbunten, so aufregenden Details. Nein, es ging nur darum, dabei sein zu dürfen. Diesen Atem des großen Abenteuers für kurz in den eigenen Lungenflügeln spüren zu können. Diese vibrierende Aufregung, mit zittriger Stimme und vielfach gehauchtem Jubelgesang, auf mäuschenleise herumschleichenden Kinderfüßen — der pure Wahnsinn. Daran tatsächlich Anteil zu nehmen. Mit eigenen Schwingen gewandt mitzufliegen. Gefühlt, überschritten sie gemeinsam mit anderen aus aller Herren Länder, Zauberbrücken, entdeckten verborgene Zaubertüren und bemalte Zauberkästen mit vielbunten Geschenken. Als wären sie wochenlang unterwegs. Und doch konnten es nur ein paar wenige Stunden gewesen sein. Und am Ende des Tages, als die Sonne schon beinahe unterzugehen drohte, gründeten sie einen Bund, wie seinerzeit Tom Sawyer und Huckleberry Finn am fernen Mississippi. Oha, wie bewusst ihnen plötzlich wurde, dass sie allesamt dieselben Abenteuergeschichten liebten?

Manche behaupten seitdem, sie gründeten eine WhatsApp-Gruppe und tauschten über tragbare Telefone ihre gegenseitigen Kontaktdaten aus. Aber das ist wohl der Anteil der Legende, der aus vielbunter Fantasie entsteht? Denn, das weiß doch wirklich jeder: In dieser Zeit gab es keine Telefone, die im Wald hätten läuten können. Mal ehrlich! Aber andere erzählten ihnen in den kommenden Jahren, dass dieser Zauberwald aus der Zukunft stamme, er wäre noch gar nicht dagewesen. Auch den Wanderweg, den die sieben inspirierten Freunde laut Legendenwerk betraten, gab es damals nicht. Und doch betraten ihn die sieben Freunde an jenem Tag. Und sie staunten nicht schlecht darüber, solches über sich selbst zu vernehmen. Angeblich erzählten sie noch ihren Enkeln und Urenkeln von diesem Abenteuer – hörten sie im Laufe ihres Lebens allerorts –, das sich im zwanzigsten Jahrhundert zutrug und die Technik des einundzwanzigsten Jahrhunderts leutselig zu nutzen wusste. Ja, Legendenwerk. Da wird einfach alles möglich. Aber die sieben Freunde blieben tatsächlich ein Leben lang gute Freunde und ihre Kinder und Kindeskinder erzählen noch heute von jener Begebenheit. Und mancher glaubt, dass ein Wald wirklich eine Zauberwelt ist und jeden zum Träumen bringen kann. Und der örtliche Fuchs mit all seinen Freunden wartet bereits auf dich! Ja, genau du bist gemeint. Egal jetzt, wann du nach ihm zu suchen beginnst und wie alt du zu dieser Zeit sein magst und ob du sechs Freunde mitbringst, ganz alleine kommst oder umgeben von deiner Familie bist, im Kreis deiner Allerliebsten. Es bleibt ein Zauberwald, der geduldig darauf wartet, dir seine Geschichten zu erzählen. Grün und lebendig, und die Vögel zwitschern in den Ästen und die Freunde des Fuchses hauchen in die Morgennebel und singen noch heutzutage mit den herumstromernden Winden leutselig ihre Lieder.