


»Schattenbaum«, Auszug 17276Asgijahr – 10000B.C.
„Uralte Steingesänge erklingen, legst du dein Ohr an eine Felswand oder nimmst nur einen glattpolierten Kiesel zur Hand“, erzählt Loki seinem Freund Frajahn, der sich unbeirrt als sein getreuer Diener bezeichnet. Eisfreie Felswände wie glattgeschrubbten Stein kennt er lediglich aus Vreemarr. Die Wolkenstadt konnte vier Jahreszeiten suggerieren. Überzeugend heimelig. Weshalb niemand Angst zu haben brauchte. Bisher. Rein deshalb ritt Frajahn ihm nach. Wie wollte er, der hohe Herr, im Eis ohne Diener zurechtkommen? Loki lächelt im Stillen, „ganz gleich, wo du bist. Steine kennen sich untereinander, und genauso kennen sie dich, mein junger Freund.“ Frajahn, der Dickkopf, der nicht begreifen will, wie nahe sie sich sind. Heute kam wegen des bedrohlichen Sturms auch noch der kleine, anhängliche Perk hinterhergeschlichen und erfror beinahe, weil er Frajahn helfen wollte, ihn, Loki, einen Hævoq zu retten. Zwei Menschenkinder, mutiger als ganz Svartalfheim zusammen, wenn es drauf ankommt. Genauso treu und unerschrocken wie der eherne Tod. Lokis Gedanken sind tiefdüster, zum schieren Zerreißen. Das macht ihn aus, dass er immerzu alles mitfühlt, Seelenqualen, genauso Hunger wie Glück. Wobei Hævoqs kein Hungergefühl kennen. Zeres, ganz allgemein, stehen über den Dingen. Nur tröstet dieses Wissen heute nicht. Alles ist mit einem Mal anders geworden. Die alte Welt bricht auseinander, wie es geweissagt ist. Dieser Eissturm wütet. Er weint um ihn. Der Eloyserthron ist mit ihm gefallen, das Erbe um die goldene Stadt verwirkt.
Sie betrachten versonnen das friedlich schlafende Gesicht Perks. Er weiß nicht, was am Richtplatz vorgefallen ist. Schlief sicherlich am Ende nur friedlich ein. Weil sein Pferd scheute, ihn abwarf und dann wohl alleine zurückließ. Mitten im Sturm. Vielleicht war es ein Esel? Ein gutmütiger alter Knabe, der fürchterlich Angst bekam? Alleine hier draußen, mitten im Nichts, mit einem hilflosen Kind. Perk jedoch blieb voller Vertrauen, wie er eben ist. Loki hofft es im Stillen. Frajahn weiß hingegen alles, auf den Punkt genau, und macht sich fürchterliche Sorgen. Deshalb erklingt nun Lokis Stimme – wobei schön singen nicht zu den Vorzügen des Kriegervolks zählt. Aber Frajahn lächelt erleichtert, wischt seine Tränen weg und putzt sich beschämt die tropfende Nase. Und dann summt er mit, und stimmlich, nunmehr zu zweit, wiederholt es sich. Oha, was eine einzelne melodische Stimme alles ausrichten kann. Diese Wunderbare könnte Steine zum Weinen bringen, aber diese hier, ringsum, summen die uralte Melodie der Eloysa leutselig mit, tief unter den beiden Sängern im Eis verborgen.
„Steinfarben sind wie Musen unserer Seele. Stimmen uns friedlich, machen uns wild, entfachen die inneren Feuer oder löschen die schwelende Glut und lassen uns auf ewig Freunde sein. Niflheim reagiert zu aller Zeit respektvoll auf die Sanftmut des Malachit, indes sich Muspelheim mit lebendigem Gold, angefüllt mit vielbunter Geschichte, die Zeit vertreibt und wir, die Ursprünglichen, dem betörenden Charme des Lapislazuli erliegen. Manche Dinge ändern sich nie. Schattenfürsten erkennen im Amethyst ihre Aussage, geformt, und der Wächter am Tor liebt die Stimme des abkühlenden, selbstbestimmten Onyx. So wie die große Mutter seit jeher der Unendlichkeit und Tiefe des Himmels und der Wasser frönt. Nur Midgard bleibt in diesem Punkt auch weiterhin unbestimmt.“
