


»Prinzenaufstand«, 29252Asgijahr – Februar 1976
Die Mär vom fahlgelben Fauvel
Und es betrug sich zu jener Zeit, als Träume noch geboren wurden, dass auf einem Eiland im warmen Süden, vis-à-vis des hohen Stiefels, eine überschäumende Küste lag, mit einem kleinen Gehöft. Auf seiner Weide stand eine trächtige Schecke, mit prächtigen Kuhflecken an Rücken und Halse, die plötzlich anfingen, die Strahlen der Sonne zu reflektieren, wie es nur Quellwasser vermag. Eine Botschaft? Aus dem Götterhain? Als wolle sich die Himmelspforte auftun? Licht bricht an scharfer Kante, nicht im Flausch? Es heißt auch, man müsse mit dem Herzen fühlen, wolle man die Sonne verstehen? Die ansonsten kastanienbraunen Beine der Stute schimmerten wie Mahagoni, hoben sich wunderbar von diesem Wollweiß ab. Schon rasch tuschelten sie, es würde kein Pferd geboren werden, sondern vielmehr ein kleiner Prinz? Der Bauer suchte lange nach einem Rappen mit dichtem weißem Fell, wie es bei Kaschmirziegen vorkommt, ähnlich den Kuhflecken der Stute. Sein Fürst, ein gütiger Mann, war neugierig angereist. Die Leute spekulierten, würde es ein Pferd mit Ziegenkopf oder eher eine Ziege mit Pferdebeinen werden? Und wie fein würde erst sein Fell sein? Die Damen ließen sich Kleider entwerfen, die das reflektierende Wollweiß an betörender Stelle einweben würden? Eine große Zucht? Der Fürst plante seinerseits im Stillen, seine Kutsche künftig mit diesen braven Schecken zu bespannen. Jeder entwickelte ganz eigene Träume; hohe Wetten wurden abgeschlossen. Als der große Tag nahte, versammelten sich die Dorfbewohner samt Gästen im geräumigen Stall, Speis und Trank unterm Arm. Frisches Brot duftete neben köstlichen Eintöpfen, all dieweil sie zu Klampfentönen zu tanzen begannen. Die eingeschüchterten Tiere drängten sich im hinteren Stalltrakt, trauten sich kaum laut zu atmen, so knisterte die geschwängerte Luft. Sie schlossen alsbald die Augen und wiegten sich ebenso berauscht zum Takt der Melodie. Die Nachricht hatte sich weitverbreitet, und plötzlich betrat der König ihren Stall. Alles wurde zügig mit Edelsteinen und seidigen Stoffen aus dem fernen China geschmückt, die die feuchten Augen der einfachen Leute noch mehr zum Leuchten brachten. Ein so feudales Festgelage, Stallwände mit bunten Tüchern behängt? Licht von hundert Fackeln durchdrang transparente Stoffe der Tänzerinnen, indes Narren wie Barden mit Scherzen und Liedern munter unterhielten. Inmitten aller Fröhlichkeit aber lagerte ihr erhabener König auf schlichtem Stroh und lächelte. Ausschweifende Festlichkeit ermüdet hart arbeitende Landarbeiter und als die ersten in tiefen Schlaf versanken, steckten sie rasch eins ums andere ihre edlen Gäste an. Berauscht von Alkohol und übermütigem Tanz, begannen sie immerzu ärger zu gähnen, mit einem Mal waren auch die Wildesten in tiefste Träume versunken, leutselig in dicke Decken gegen das pieksige Stroh gehüllt. Sie verpassten den entscheidenden Moment. Die Bauersleut ziehen das Füllen in aller Stille aus dem Mutterbauch. Alsbald erblickt es das Licht der Welt, aber es ist nicht schneeweiß, sondern verstörend fahlgelb, jedoch mit einem lang gewachsenen, samtweichem Fell wie eine Kaschmirziege. Lebhafte, dunkelbraune, kluge Augen, vielleicht für eine Katze passend? Die Stute zuckt irritiert zurück und muss von der Bäuerin überredet werden, das bizarre Fellknäuel anzunehmen, es zu lecken und zu umsorgen. Doch kaum findet es heraus, wofür die langen dürren Stecken weiter unten zu gebrauchen sind, stürmt es nach draußen, der Morgensonne entgegen und beginnt, seine Welt zu erkunden. Damit hat die Bäuerin einen Namen für ihn gefunden: Fauvel soll er heißen, gleich einer jungen, ungestümen Katze. Die Gäste, aus tiefem Schlaf gerissen, mit Kopfdröhnen, sind wie gebannt vom Anblick des Wildfangs … Runde um Runde im Außengehege drehend, geschwinder und eleganter in seinen Bewegungen werdend, als gelte es gleich im allerersten Moment alle Rekorde zu brechen? Als wäre ein uralter Geist erwacht? Sie schauen ihm fasziniert zu, indessen sie seine bizarre Färbung quittieren, die keinem zusagen mag. Fauvel bemerkt ihre Blicke, wie sie einen Prinzen suchen und stattdessen einen Frevler sehen? Sie bleiben blind! Derweil er dreist beschließt, seine Welt unabhängig von ihrem engstirnigen Dafürhalten zu definieren. In seinem Herzen entbrennt eine unstillbare Leidenschaft: Zu beweisen, dass er mehr als nur ein simples Pferd ist. In diesem ersten lichten Moment beschließt er kühn, eines Tages ihr aller König zu sein. Fauvel betrachtet die Menschen mit seltener Weisheit. Er sieht prächtige Gewänder, Glanz und Prunk und begreift, wie vielschichtig das Leben ist. Ergo, will er keinesfalls als bloßes Tier in einem Stall am Ende der Zeit stehen; nein, er möchte Anteil nehmen, die künftige Zeit mitgestalten? Er möchte am Tisch der Menschen sitzen, Kuchen essen und mitreden? Bücher lesen und Gedichte rezitieren? In seinen Gedanken stellt er sich vor, wie er aufrecht wie ein Mensch gehen wird, und mit seinen finger- und handlosen Armen die Körner im Eimer greifen kann, die Gänse, Enten und Hühner zu füttern? Löwenzahn für die Hasen zu rupfen? Möhren für die Schleckermäuler auszugraben? Seine Träume sind vielbunt. Er stellt sich vor, wie er in einem hohen Bett schläft, wie man es in Palästen kennt, nicht im Stall. Er weiß, dass es ein Leben jenseits des Meeres gibt. In seinen Gedanken trägt er eine vornehme Krone, die zwischen seinen fahlgelben Ohren klemmt, und er spricht mit der gebildeten Stimme eines vornehmen Herrn, als wäre er am französischen Hofe geboren?
Fauvel studiert die Menschen, ihre Etikette und ihre komplizierten Verhaltensmuster. Er weiß schon bald, wann ein Weibchen hofiert werden sollte und wann es klüger ist, sich etwas zurückzuziehen. Die hiesige Küstenlande wird von regelmäßigen Überflutungen geplagt. Der Hof des Bauern leidet insbesondere unter unbändigen Wassermassen. Für Fauvel liefert es den Anstoß, seine unerquickliche Situation resolut zu beenden. Indessen andere Hufträger geduldig im hohen Wasser stehen, darauf wartend, dass wer kommen möge, sie zu retten, ist Fauvel von der elendigen Nässe und dem Mangel an Respekt völlig frustriert. Die Leute bemerken gar nicht, dass er geschwinder läuft als alle anderen Tiere? Nur reiten lassen will er sich nicht. Sie erkennen nicht, dass er unzählige Sprachen versteht und genauso klug ist wie sie. Die Dorfbewohner sind ihrerseits schwer enttäuscht, ein Pferd, das sich nicht für das Leben im Stall interessiert und stattdessen ihnen, den Menschen, nachspioniert? Sie reagieren jeden Tag verstörter auf sein Gebaren. Ihre Versuche, ihn zum Reitpferd auszubilden, gar vor einem Karren einzuspannen, scheitern kläglich, und bald geben sie auf. Selbst die Esel im Stall schütteln ihren Schädel, ob seines Starrsinns. Dann kommt die nächste Sturmflut, die Wellen brechen mit aller Heftigkeit über das ausgetrocknete Land. Während die Menschen bemüht sind, ihre Tiere zu bergen, verschwindet Fauvel auf Nimmerwiedersehen! Genug von der Enge des Hofes, macht er sich auf den Weg, das Schloss des Königs zu suchen. Er schleicht sich an Bord eines Schiffs, das aber keinen Hafen ansteuert, sondern an der einsamen französischen Küste Anker setzt, also muss er mittig ins tiefe Wasser springen und mühsam Richtung Landzunge schwimmen. Am bequem auslaufenden Strand lungern die Seeleute, also steuert er die steinige Küste mit guten Verstecken an. Indessen er, seinen kräftigen Leib geschickt durch die heftige Brandung laviert, zuletzt über rutschigen Untergrund schlitternd, entdeckt er ein Ding, von Sonnenstrahlen hellauf beschienen. Mit seiner Lederschnur verfangen im Unterholz? Gewölbtes Glas, laut Buchlehren, konkav oder konvex geschliffen? Leider war keine Bezeichnung auf dem Papierfetzen zu entziffern. Tja, Anschürpapier? Aus einem alten Fachbuch gerissen? Die Vorstellung ist grausig … Fauvel schüttelt es innerlich. Die Scherbe ist nach innen wie nach außen gewölbt? Durchsichtig. Ältere tragen solches am Halse oder in der Tasche steckend. Fauvel hat oft darüber gegrübelt, wofür das Glitzerding taugen könnte? Er nimmt es an sich und stellt fest, dass er weit sehen kann und Feuer machen, falls er es in die Sonnenstrahlen hält? Jedoch fehlen ihm die geschickten Hände mit Fingern, es richtig anzupacken. Ergo benötigt er einen Schmied, ihm eine Halterung anzufertigen, dass er es an seinen Beinen befestigen kann? Mit dem Maul positioniert, könnte er mit etwas Übung und Zuhilfenahme eines Felsens oder Baumstamms die Umlande absuchen?
Auf seiner emsigen Fernsuchstudie, er weiß ja noch nicht, was es zu finden geben könnte, beobachtet er, wie in weiter Ferne ein offensichtlicher Meister seinen Lehrling misshandelt. Er schlägt den jungen Mann ein ums andere Mal mit seinem Ledergürtel und Fauvel läuft aufgeregt die Hügel hoch und runter, von rechts nach links wechselnd und wieder etwas zurück. Und gleitet aus und rutscht am Ende schmerzvoll, am blanken Hintern, mit zittrigen Beinen einen Schotterhang hinunter, der schnellstmögliche Weg, nach dorthin zu gelangen. Dann sieht er, wie der aufgebrachte, wutschnaubende, adipöse Mann stolpert und schwupp, rutscht er ins offene Meer und ist bereits tief in den Wellen versunken, als Fauvel noch überlegt, ob er ihn retten wollte? Nein, das will er nimmermehr, beschließt er streng. Das nennt sich Gerechtigkeit? Justitia mit ihrem blinden Verständnis für Maßhaltung? Endlich versteht er das Gleichnis. Die Zeit des Meisters ist augenscheinlich abgelaufen? Eine neue bricht dafür an? — „Die Menschen verachten den Gesellen unseres toten Herrn, weil sein Gesicht entstellt ist“, erzählt ihm der kluge alte Esel im Stall, ein neugieriger Beobachter. Als Fauvel das erfährt, ist er nochmals empörter und rein zum Trost, küsst er den netten jungen Mann spontan. Worüber der sich so freut, dass er Fauvel jeden Wunsch erfüllen möchte. Oha, Fauvel hat ein konkretes Anliegen, weshalb er einen Schmied aufsuchen wollte? Bisher wusste er nur nie, wie er es bezahlen könnte? Das ist hinfällig geworden, der Schmied ist nicht mehr, und seine Werkstatt steht frei verfügbar? Fauvel erkennt das großzügige Geschenk Mutter Erdens und tauft zuallererst seinen namenlosen Freund ›Ange‹ und hängt, wie beim eigenen Namen, ein kleines ›l‹ hinten an, zur Verniedlichung. Angel, ein Engel und er, der Ungezähmte? Ein gar prachtvolles Paar. Die Tiere am Hof erhalten allesamt schöne Namen und sie dürfen ordentlich futtern, wie es sich gehört. Fauvel lässt sich auf keine Diskussion ein; das ergraute Schwein versucht ihm verständlich zu machen, dass sie nichts mehr wert sind, nur die jungen Kühe als frisches Fleisch, da sie noch keine Milch geben. Sein eigenes Fleisch müsse man ewig am glühenden Herd kochen, möchte man sich nicht die Zähne ausbeißen? Das ist Fauvel einerlei, er mag ohnehin kein Fleisch essen, ob zäh oder weich? Ihm schwebt Kuchen vor und Angel ist bereit, sich gewiss auf jedes Abenteuer einzustimmen. Fauvel beschließt also, dass es gut ist, wie es ist, und so fertigt Angel eilfertig eine Halterung für Fauvels geschliffenes Glas und brauchbare Werkzeuge für die Reise samt Tauschmaterialien. Da Angel nie Lohn erhalten hat, nur Prügel und zu wenig Essen, denn er sieht so verstörend aus, dass der Schmied ihn im Schweinestall verstecken musste, weshalb die Kühe keine Milch geben konnten. Wegen Angel? Lügenmär! Also packen sie ein, was immer sie brauchen. Der Schmied war ein so gemeiner Mann, dass es keine Frau aushalten konnte, demnach gibt es keine Kinder. Sie bestehlen niemanden und der Esel wie das Schwein und die alte Kuh und ihre beiden Mädchen und genauso der alte Hahn mit seinen drei Frauen schließen sich leutselig an. Sie laden ihr Gepäck auf einen Wagen, ihn abwechselnd zu ziehen; Schweine, Kühe und Pferde, sie alle können reichlich schleppen und selbst ein sturer alter Esel kann bisweilen etwas zupacken? Oh ja, Fauvel überzeugt ihn. Und die Hennen sitzen die meiste Zeit obendrauf und schlafen tief und fest und werden beizeiten vom lauthalsen Krähen des munteren alten Hahns aufgeweckt, der nur noch jubilieren möchte. Er sollte genauso geschlachtet werden wie seine treuen Mädels. Er zeigt Fauvel noch rasch alle Verstecke am Hof und somit sind sie nun prachtvoll ausgerüstet, wenngleich der Esel schon nach drei Tagen den gesamten Vorrat an Mohrrüben ganz alleine verdrückt hat. Aber er musste, wie alle, ewig darben, indessen sich der Schmied einen kugelrunden Bauch angefressen hat. Die Menschen betrachten sie fasziniert, verstehen sofort, dass keines der Tiere ein typischer Vertreter seiner Art ist. Sie alle zählen einer neuen Weltordnung zu, einer Welt, in der Tiere Rechte genießen, die denen der Menschen in nichts nachstehen. Betreten sie die Ansiedlungen und Angel stellt die Schmiedearbeiten vor, werden sie adäquat entlohnt. Niemand versucht, sie auszugrenzen, sieht sie gar als minderwertig an? Ihre Waren sind erste Wahl. Angel wäre ein fantastischer Schmied geworden, hätte es der Meister nur zugelassen. Aber er nutzte den Gesellen wie einen Leibeigenen aus und heimste selbst die Lorbeeren ein. So läuft es aber nimmermehr, wenn ein fahlgelbes Pferd die Krone trägt. So reisen sie weiter und treffen schon bald auf die kluge Dame Fortune, eine gar zauberhafte Person, die über die Gabe verfügt, alles so erscheinen zu lassen, wie man es sich guten Herzens wünscht. Mit Fortunes Hilfe können sie weitere Gefährten in ihre größer werdende, muntere Familie einsortieren und ihre Welt wächst stetig weiter und Fauvel steigt zum kühnen Herrscher einer großen, vielbunten Gemeinschaft auf, geprägt von Verständnisbereitschaft und Respekt. Indessen erklären sie Angel zu seinem Vogt. Und Fortune wird ihre Königin – wie eine geduldige, gütige Mutter angefühlt. Gemeinsam regieren sie eine große, weite Welt, von Gerechtigkeit und Freundschaft geprägt. Fauvel findet nicht nur Freiheit, sondern die Möglichkeit der fließenden Veränderung. Das große Rad der Zeit mitzudrehen. Er beweist ihnen allen, dass wahre Stärke im Herzen wie im Geiste ruht, dass auch der schlichteste Verstand bärenstark sein kann. Dass jeder mit Hufen in der Welt ankommt und alle herausfinden können, wie man in der Abendsonne tanzt. So leben sie glücklich und zufrieden bis in die jüngste Gegenwart hinein, die sie behutsam vielbunt färben. Indessen die Wellen der Vergangenheit hinter ihnen Stück um Stück verblassen.